Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Nes Ammim – Ein Blick zurück in die Zukunft

 

Einblicke in die oft nicht einfache Geschichte Nes Ammims: 50 Jahre Nes Ammim, das sind tausende von Freiwilligen, die dieses Zeichen »der« und »für« die Völker bis heute mit ihrem Engagement unterstützen und damit einen wichtigen Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog leisten.

 

Von Thomas Kremers und Michael Wichelhaus

 

Wofür steht Nes Ammim, das als christliche Siedlung ein „Zeichen für die Völker“ oder ein „Zeichen der Völker“ (Jesaja 11,10) sein will? Im Baedeker-Reiseführer von 2009 findet sich folgende Beschreibung: „Wer sich für Rosen begeistert, sollte zur knapp 10 km südöstlich gelegenen internationalen christlichen Siedlung Nes Ammim fahren. Sie wurde 1963 von jungen Christen, meist aus Holland, gegründet und ist bekannt für ihre Rosenzucht.“[1] Dabei ist die für Nes Ammim identitätstiftende Funktion der Rosenzucht längst Geschichte, wurden doch die Rosengewächshäuser schon vor Jahren abgerissen. Heute stehen ganz andere Vorhaben wie das Landentwicklungsprojekt im Fokus der Entwicklung. Um zu verstehen, was Nes Ammim eigentlich ausmacht, sollte ein Blick zurück in die Geschichte geworfen werden.

Vom Holocaust zur Gründung des Staates Israel

Die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland löste eine starke Einwanderung von Juden in Palästina aus. Nach dem Scheitern der britischen Besatzungsmacht in Palästina und dem UN-Teilungsplan von 1947, der sowohl einen jüdischen als auch einen arabischen Staat in Palästina vorsah, wurde 1948 der Staat Israel proklamiert. Der junge jüdische Staat verstand sich nach dem Holocaust als Heimstatt und Fluchtmöglichkeit für alle Juden. Er konnte sich zwar im Unabhängigkeitskrieg gegen die arabischen Nachbarstaaten durchsetzen, löste aber auch eine Flüchtlingswelle von Palästinensern aus, die eine wesentliche Ursache für den bis heute schwelenden Nahostkonflikt ausmacht.

Eine christliche Siedlung in Israel

Ende der 50er Jahre und noch bis weit in die 60er Jahre hinein äußerten viele Israelis ihre Skepsis gegenüber einer christlichen Siedlung in Israel: „Ihr kommt zu früh! Die Wunden der Vergangenheit sind noch zu frisch in Israel, als dass ein Zusammenleben mit euch möglich sei.“[2] Der Widerstand gegen die Gründung Nes Ammims ist gut nachvollziehbar, lag doch eine Wurzel des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus in der jahrhundertealten christlichen Judenfeindschaft. Die „fast zweitausendjährige Geschichte der Bedrückung und Verfolgung der Juden durch die Christenheit“[3] hatte zu einer tiefen Kluft zwischen Juden und Christen geführt. Es grenzt deshalb schon an ein Wunder (einer weiteren Übersetzungsmöglichkeit für „Nes“), dass nicht einmal 20 Jahre nach der unvorstellbaren Barbarei der Judenverfolgung und Vernichtung großer Teile des europäischen Judentums im Nationalsozialismus eine christliche Siedlung in Israel entstehen konnte.

Eine Brücke zwischen Juden und Christen

Wie ist nun diese christliche Siedlung in Israel keine zwanzig Jahre nach dem 2. Weltkrieg entstanden? Ende der 50er Jahre entwickelte der in Israel arbeitende holländische Arzt Johan Pilon, der im Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden als Widerstandskämpfer gegen die deutschen Besatzungstruppen gekämpft hatte, im Gespräch mit seinem jüdischen Freund Shlomo Bezek die Vision, in Israel eine christliche Siedlung zu gründen. Diese Siedlung sollte zu einer Brücke über den Abgrund der christlichen Schuld am jüdischen Volk werden. Im Mai 1960 trafen sich in Amsterdam vornehmlich holländische Unterstützer für diese Idee, aber auch Amerikaner, Schweizer und erste Deutsche. Wenige Monate später bekam die zukünftige Siedlung den Namen „Nes Ammim“.

Ökonomische Unterstützung Israels

1960 wurde das erste Memorandum an die israelische Regierung formuliert: Nes Ammim sollte ein Zeichen für die Völker werden, indem es die Entwicklung des jungen Staates Israel ökonomisch unterstützen und einen Dialog zwischen Juden und Christen initiieren sollte, der im alltäglichen Leben und Miteinander in Israel wurzelt. Zwar stand im Sinne eines Investierungsplans die ökonomische Grundlage der Siedlung und die Absicherung der Gründung Nes Ammims im Vordergrund, es sollte aber ausdrücklich nicht nur darum gehen, Israel mit „finanzieller Unterstützung zu helfen, sondern auch hinzuarbeiten auf gegenseitiges Wohlwollen und Verständnis auf dem Niveau konkreter menschlicher Beziehungen.“[4]

Nes Ammim als Ort des Dialogs zwischen Juden und Christen

Etwas andere Prioritäten als im Memorandum von 1960 setzte Heinz Kremers im Memorandum von 1964, das er in Zusammenarbeit mit Ds. R. Bakker und Jacobus Minnaar formulierte: „Durch die Errichtung von Nes Ammim möchten wir die persönlichen Kontakte zwischen Juden und Christen in Israel intensivieren und uns zugleich am Aufbau des Staates Israel in möglichst wirkungsvoller Weise wirtschaftlich beteiligen.“[5] Durch das Leben und Handeln als Christen sollten die Siedler unter den strapaziösen klimatischen Lebensbedingungen und schwierigen wirtschaftlichen Umständen Israels durch Nes Ammim ein „sichtbares Schuldbekenntnis“[6] zum Ausdruck bringen und eine „Brücke zwischen Juden und Christen“[7] bilden. Ein Zeitalter der raschen Veränderungen in Gesellschaft, Wissenschaft und Technik macht Juden und Christen zu gemeinsam Lernenden. Dieser Dialog kann grundsätzlich aus christlicher Perspektive nur als ein mit dem jüdischen Volk solidarischer Dialog umgesetzt werden und bedeutet für Christen, dass sie „als Hörende in den Dialog mit den Juden hineingehen“[8] und damit vor allem dazu bereit sind, von Juden lernen.

Dialog und Ökonomie in der Balance

Die Konstruktion Nes Ammims mit den Vereinen in den Niederlanden, Schweiz und in Deutschland auf der einen Seite und der Eigendynamik einer Siedlung in Israel, die versucht auf soliden ökonomischen Beinen zu stehen, ist kompliziert und konfliktreich. Auch die doppelte Zielsetzung mit einerseits dem jüdisch-christlichen Dialog und andererseits der ökonomischen Unterstützung Israels hat in der Geschichte Nes Ammims immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der Siedlung geführt: Sollte bspw. der in den 70er Jahren boomenden Rosenzucht oder dem Dialog Priorität zukommen?  Heute stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Hotelbetrieb und Dialog und zukünftig wird darauf zu achten sein, dass auch das Landentwicklungsprojekt nicht nur zu einer wirtschaftlichen Sanierung Nes Ammims beiträgt, sondern förderlich für den Dialog ist.  

Grundsätzlicher Verzicht auf Judenmission

Die theologischen Begründungen für die Gründung Nes Ammims sind im Laufe der Jahre  immer präziser geworden: Während noch im Memorandum von 1960 die christlichen Siedlern als „Missionare“ der neuen christlichen Haltung gegenüber dem Judentum bezeichnet werden, wird im Memorandum von 1964 schon deutlicher ausgeführt, dass „unser persönliches Bekenntnis (…) jedoch nie zu einer ausführlichen Predigt und Belehrung werden“[9] darf. Begründet wird diese Position damit, dass der Bund zwischen Gott und Israel nicht beendet ist und Juden und Christen Schwestern und Brüder seien. Die Idee, dass unter diesen Umständen Judenmission keinen Sinn mehr macht, wird in der Grundsatzerklärung von 1970 aufgegriffen und dort wird ein prinzipieller Verzicht auf die Judenmission formuliert.[10] Nes Ammim kann somit auch als eine Art Katalysator für theologische Positionsveränderungen bezeichnet werden.

Deutsche in Nes Ammim

Am 8. März 1963 wurde der deutsche Nes-Ammim-Verein gegründet. Verständlicherweise gab es so kurz nach der Verfolgung und Massenvernichtung von Juden im NS-Regime starken Widerstand aus den umliegenden Siedlungen gegen deutsche Siedler in Nes Ammim. Zumindest in den ersten Jahren. Deshalb war es ein Meilenstein in der Geschichte Nes Ammims, als 1968 – drei Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland – Heinz Kremers, während seines Gastsemesters an der Hebräischen Universität in Jerusalem, seine Familie für vier Monate mit nach Nes Ammim nehmen durfte und sie damit als erste Deutsche in der Siedlung lebten. Es folgten die Ehepaare Bieler und Busse, viele Freiwillige und zahlreiche Studienleiter, die wesentlich an der Vertiefung des Dialogs beteiligt waren.

Krisenhafte Jahre

1973 waren zwei deutsche Freiwillige unter Androhung von Gewalt aus Nes Ammim vertrieben worden. Im Herbst  lebten dann schließlich nur noch zwei deutsche Zivildienstleistende in der Siedlung. Nes Ammim befand sich aber nicht nur durch die Vertreibung der deutschen Freiwilligen in einer Krise: Die 1965 begonnene Rosenzucht boomte und schluckte alle Kraft der ca. 100 Dorfbewohner. Eine kleine Gruppe von Dorfbewohnern um Johan Pilon kritisierte, dass die Aufgabe Nes Ammims nahezu ausschließlich auf die ökonomische Unterstützung Israels reduziert wurde. Zeit für alltägliche Kontakte mit Israelis oder gar einen Dialog mit Juden war dagegen Mangelware.

Der Bau des Dorfzentrums

Symptomatisch für diese Vereinseitigung der Ziele Nes Ammims war, dass das Dorfzentrum als Symbol für den jüdisch-christlichen Dialog zwar 1973 im Rohbau fertiggestellt war, aber die Arbeiten daran nicht fortgesetzt wurden. Deshalb wurde gegen den Willen des Maskirs, der als Gemeindevorsteher auch gleichzeitig der Leiter der Rosenzucht war, zunächst mit privaten Mitteln der Bau des Dorfzentrums fortgesetzt. Die Konflikte im Dorf eskalierten und erst durch die Intervention der holländischen und deutschen Nes-Ammim-Vorstände  konnte wieder eine Balance zwischen den ökonomischen Zielen und dem Auftrag zum Dialog hergestellt werden. In dieser Phase wurde auch deutlich, dass das Leben in Nes Ammim auch immer eine Eigendynamik besitzt, die zu Konflikten mit den Zielsetzungen und Ideen der europäischen Nes-Ammim-Vereine führen kann.

Konsolidierung des jüdisch-christlichen Dialogs

Seit dieser Krise 1973/74 ist der christlich-jüdische Dialog wieder ein fester Bestandteil Nes Ammims. Johan Pilon konnte zwar noch das erste Jahr dieser erfreulichen Entwicklung begleiten, wegen seines frühen Todes im Jahre 1975 erlebte er allerdings nicht mehr die Einweihung des Dorfzentrums. 1975 kam Simon Schoon nach Nes Ammim und gab wichtige Impulse für die Stärkung des jüdisch-christlichen Dialogs. So fand 1976 ein erstes Theologenseminar in Nes Ammim statt. 1980 fasste auf Initiative von Yehuda Aschkenasy und Heinz Kremers sowie vieler anderer Unterstützer die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland den bahnbrechenden Beschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“. Die Synode erkannte ausdrücklich Nes Ammim an und beschloss eine offizielle Förderung Nes Ammims.  

Guerillaangriffe aus dem Libanon

Während der Jom-Kippur-Krieg von den Siedlern in Nes Ammim nicht als besonders bedrohlich empfunden wurde, spitzte sich die Situation im Norden Israels im Jahre 1974 dramatisch zu: Immer häufiger wurden Guerillaangriffe aus dem Libanon gegen israelische Siedlungen im Norden Israels geführt. Hintergrund für diese Angriffe der PLO aus dem Libanon war die Vertreibung aus Jordanien im Schwarzen September 1970, nachdem die PLO dort einen Staat im Staate gebildet hatte. Die Siedler machten sich große Sorgen, weil Nes Ammim eigentlich ein ideales Ziel für potentielle palästinensische Geiselnehmer gewesen wäre. Schrittweise wurde eine  eigene Wachmannschaft aufgebaut, da Nes Ammim im Gegensatz zu den gut bewachten jüdischen Siedlungen gänzlich ungeschützt war. Zunächst setzen sich einige Bewohner nachts mit Trillerpfeifen auf die Häuser, um vor einem möglichen Angriff zu warnen. Schließlich erhielt Nes Ammim von der israelischen Armee die Erlaubnis, dass die Wachmannschaft Pistolen und alte Karabinergewehre tragen durfte.

Solidarität mit dem jüdischen Volk

Der  Friedensvertrag von 1979 zwischen Israel und Ägypten ließ erste Hoffnungen auf einen Frieden im Nahen Osten aufkommen. Aber die Guerillaangriffe aus dem Libanon auf jüdische Siedlungen und Städte im Norden Israels waren 1982 der Anlass für die Besetzung des südlichen Libanons durch die israelische Armee. Die israelischen Truppen verhinderten dort nicht die Massaker christlicher Milizen in den Palästinenserlagern Sabra und Schatila. Diese Ereignisse bewirkten einen Stimmungsumschwung in Deutschland gegenüber Israel: Hatte es noch 1967 - ausgelöst durch die Bedrohung Israels durch die arabischen Staaten und den Sechs-Tage-Krieg - eine breite Sympathiewelle gegenüber Israel in Deutschland gegeben, wurden nun verstärkt israelkritische Stimmen laut. Umso wichtiger ist es, wenn Christen aus Deutschland in Nes Ammim klar ihre kritisch gelebte aber dennoch unmissverständliche Solidarität mit dem jüdischen Volk zum Ausdruck bringen.

Kein Frieden in Sicht? 

Die in den 80er Jahren offensiv betriebene Siedlungspolitik Israels in den besetzten Gebieten führte 1987 zur ersten Intifada, die sich im Verlauf der Jahre zu einem Guerillakrieg fundamentalistisch-islamischer Gruppen wie der Hamas wandelte. Dagegen ließ die Anerkennung des Staates Israel durch die PLO in einem Brief Jassir Arafats 1993 ebenso wie die Unterzeichnung des Gaza-Jericho-Abkommens durch Jitzchak Rabin und Jassir Arafat erneut Hoffnungen auf einen Frieden im Nahen Osten aufkommen, die durch die gemeinsame Verleihung des Friedensnobelpreises 1994 an Shimon Peres, Jitzchak Rabin und Jassir Arafat noch verstärkt wurde. Diese Hoffnungen wurden allerdings durch die Ermordung Rabins durch einen jüdischen Extremisten, durch das Scheitern der Verhandlungen in Camp David im Jahre 2000 und die ebenfalls in diesem Jahr beginnende zweite Intifada wieder zunichte gemacht. So erscheint die Situation im neuen Jahrtausend trotz aller ursprünglichen Fortschritte im Friedensprozess als festgefahren.

Dialog mit israelischen Arabern und Palästinensern

Nes Ammim liegt zwischen einer Reihe jüdischer Siedlungen im Westen und arabischen Dörfern auf den Hügeln von Galiläa im Osten. Deshalb hat Simon Schoon darauf hingewiesen, dass der Dialog mit arabischen Israelis selbstverständlicher Bestandteil der Identität Nes Ammims sein müsste: „Soll aber die Grundlage von Nes Ammim das ´gelebte Leben in Israel` sein, so gehören die Kontakte mit arabischen Israelis einfach dazu.“[11] Die christlichen und auch die muslimischen Araber sind seit Jahrzehnten Staatsbürger Israels, auch wenn sie sich oftmals als Bürger zweiter Klasse empfunden haben. Als unmittelbare Nachbarn sind sie wichtige Gesprächspartner Nes Ammims. Wenn Nes Ammim einen Beitrag dazu leisten will, im Nahostkonflikt „eine weitere Polarisierung zu verhindern“[12], dann macht es viel Sinn, sich auch für einen Dialog mit den Palästinensern im Westjordanland zu öffnen. Deshalb kann die Begleitung und Förderung von jüdisch-arabischen Friedensbemühungen durch Nes Ammim ein kleiner aber wichtiger Baustein für einen gerechten Frieden sein.

Vom Bus zum Dorf

Wenn ein heutiger Besucher durch Nes Ammim wandert und seine Eindrücke von der Siedlung mit Fotos aus den ersten Jahren vergleicht, wird deutlich, dass sich das Erscheinungsbild Nes Ammims in den vergangenen fünf Jahrzehnten sehr verändert hat: 1963 bezog ein Schweizer Ehepaar als erste Siedler einen ausrangierten Linienbus mitten in einem staubigen  Brachland. In den folgenden Jahren wurden die Baracken und ein erster Esssaal gebaut. Es folgte der Bau der ersten festen Steinhäuser für Familien. Die in den 60er Jahren gepflanzten Bäume geben heute Schatten und der in den 80er Jahren mit Hilfe der Universität Haifa gepflanzte botanische Garten verleiht Nes Ammim eine ganz eigene Atmosphäre. Das 1982 fertiggestellte Schwimmbad oder das Hotel waren noch in den 70er Jahren Luftschlösser, heute sind sie ebenso wie das Center of Learning and Dialogue for Peace oder die Kapelle selbstverständliche Bestandteile der Siedlung. In 50 Jahren hat sich also auf dem steinigen Hügel im Nordwesten Galiläas vieles verändert und damit steht das Wort „Nes“, das Wunder, für eine beeindruckende Entwicklung. Mit dem neuen Landentwicklungsprojekt wird nun wieder ein neues Kapitel in der spannenden Geschichte Nes Ammims aufgeschlagen, sicher nicht das letzte.

Dialog ist kein »neues Kernbusiness«.

Die Frage der »Selbstfinanzierung« war in all den Jahren immer relevant für die Existenz von Nes Ammim, doch sie hat auch häufig genug den Blick verstellt für die eigentlichen Aufgaben. Wenn die Vergangenheit eine Zukunft haben soll, dann könnte ein Blick zurück nach vorne entscheidend sein. Vor allem bei den anstehenden großen Veränderungen durch das Landentwicklungsprojekt. Es ist keine neue Aufgabe von Nes Ammim, sich mit dem Thema Dialog auseinander zu setzen. Die Arbeit der vielen Studienleiter in Nes Ammim gibt dafür bis heute ein eindeutiges Zeugnis ab. Es ist der Blickwinkel, aus dem heraus sich Nes Ammim immer schon, mehr oder weniger grundsätzlich, verstanden hat und der sich vor allem eindeutig weiterdenken, weiterentwickeln muss: Kein Verständnis von Zusammenleben, das Menschen unterschiedlicher Herkunft oder Religion ausgrenzt, sondern die Chance erkennt ein Stück real gelebten, zwischenmenschlichen Friedens im Erleben des anderen zu erfahren. Keine große weltpolitische, aber dennoch klare christliche und ebenso politische Botschaft.

Das „neue“ Nes Ammim

Was könnte dies für das »neue« Nes Ammim bedeuten? Wenn die Gründungsgedanken weiterhin zu einem klaren Selbstverständnis gehören, dann wird Nes Ammim wachsen und dabei sogar einen Teil der bedrückenden finanziellen Schulden loswerden. Die eindeutig schwerer zu lösende Aufgabe ist allerdings nicht der Tausch von Land gegen Geld, sondern die Gestaltung eines zukünftigen Zusammenlebens. Dialogarbeit kann ein wichtiger Teil sein. Selbstverständliches Vorleben ein anderer. Dialog ist dabei Angebot und nicht Zweck zum Lernerfolg. Keine neue Form der Bekehrung. Authentisches und glaubhaftes Vor-Leben ist entscheidend. So leicht dies geschrieben ist, so schwer ist dies im realen Leben umzusetzen. Nes Ammim hat sich seit vielen Jahren aufgemacht, die sprichwörtliche Gastfreundschaft des Orients als einen möglichen Einkommens-Schwerpunkt zu verstehen. Wir denken, dies ist weiterhin ein guter Weg. Nicht als Selbstzweck oder Tausch gegen die »Rosenzucht«, sondern mit Bedacht und gutem Blick für noch zu entwickelnde Angebote. Eingebunden in das Leben mit und für die neue Nachbarschaft. Das »neue« Nes Ammim hat so als lebendiges »Zeichen der« und »für die Völker« gute Chancen die nächsten 5o Jahre weiter zu bestehen.

Fragen an die Zukunft

Reicht es schon aus, für und in einer Gemeinschaft zu leben, die sich selbst verpflichtend, wenn auch theologisch begründet, zu Toleranz und »von einander lernen« bekennt? Nes Ammim als Lernort? Ist eine unmissverständlich gelebte Solidarität zum jüdischen Volk schon genug? Politisch war das eindeutig nach 1945 und dem »nie wieder so etwas«. Nes Ammim war sich bei seiner Gründung natürlich auch über die staatspolitische Tragweite im Klaren, vor allem jedoch war Nes Ammim ein konkretes Bekenntnis der Menschen zu den Menschen. Ein Ort, der sich als Angebot verstand und nicht als falsch verstandene Wiedergutmachung. Ein Stück friedenspolitisches Leben, als Zeichen »von und für« die Völker. Ein einfaches »Ja« zum Menschen, letztendlich jeglichen Glaubens oder Herkunft. Auch damals schon gesehen »als in die Welt getragenes Zeichen« und nicht nur an das Jüdische Volk. Eine Botschaft, die heute noch genau so aktuell ist wie damals.

Schritte auf den anderen zu

Theologisch sich denkend, im Kontext des »alten Bundes mit Gott«, steht Nes Ammim für mehr als nur die Suche nach den eigenen Wurzeln. Gottes Bund mit Israel ist die fundamentale Schnittstelle, die uns mit dem Judentum verbindet. Dies zu sehen und zu erfahren, dafür haben viele Persönlichkeiten ihre Stimme und ihr Herz gegeben und uns einen theologisch veränderten Blick. Gottes Bund als »Angebot und Vertrauen«, der sich auswirkt bis in unser alltägliches Leben. Diesen Ursprung zu erkennen, verknüpft mit dem erklärten Verzicht auf jegliche Missionsarbeit, nur so konnte Nes Ammim entstehen und so denkend letztendlich ein Stück weit auch die Realität verändern. Die Konsequenz ist weitaus mehr als eine Selbstverpflichtung in Richtung Toleranz und religiöser Freiheit. Sie befreit von Grenzen jeglicher Art und gibt damit Raum für eine andere Glaubens- und Lebensidee. Wer versucht zu verstehen, der macht einen Schritt auf den anderen zu.

 



[1] Baedeker Reiseführer: Israel Palästina, Ostfildern 2009, 11. Aufl., S. 356.

[2] Heinz Kremers: Kommentar zum Memorandum von 1964, in: Simon Schoon/ Heinz Kremers: Nes Ammim – Ein christliches Experiment in Israel, Neukirchen-Vluyn 1978, S. 187.

[3] Memorandum von 1964, ebenda S. 174.

[4] Memorandum von 1960, ebenda S. 172.

[5] Memorandum von 1964, ebenda S. 175.

[6] Memorandum von 1964, ebenda S. 174.

[7] Ebenda, S. 174.

[8] Heinz Kremers: Dialog zwischen Kirche und Synagoge, in Heinz Kremers: Liebe und Gerechtigkeit, hrsg. Von Adam Weyer in Zusammenarbeit mit Thomas Kremers-Sper, Neukirchen-Vluyn 1990, S. 65.

[9] Memorandum von 1964, in: Simon Schoon/ Heinz Kremers: Nes Ammim – Ein christliches Experiment in Israel, Neukirchen-Vluyn 1978, S. 176.

[10] Grundsatzerklärung von 1970, ebenda S. 196.

[11] Simon Schoon: Juden und Araber, ebenda S. 110.

[12] Simon Schoon: Juden und Araber, ebenda S. 111.